Es ist Dienstag. 7.05 Uhr. Gestern noch Tag der Deutschen Einheit. Ich steige in den Aufzug, drücke den Knopf. Station 4. Die wuchtigen Türen des Fahrstuhls schließen sich. Ich schaue in den Spiegel und sehe mein blasses Gesicht, das im Neonlicht noch bleicher wirkt als es ohnehin schon ist. Mein Herz rast schneller als der Aufzug über die Etagen des Krankenhauses. Mein Hals schnürt sich zusammen und auf meiner Brust sitzt ein Betonklotz, der meine Atmung blockiert. Tränen steigen mir in die Augen. Warum muss ich jetzt heulen? Muss doch jetzt nur meiner Arbeit nachgehen, sonst nichts. Doch Gefühle überwältigen mich. Gefühle, die hier nicht hingehören, die sich aber trotzdem in den Mittelpunkt rücken. "Station 4, Ebene 4. Waldkrankenhaus", spricht eine eher monotone emotionslose Roboterfrauenstimme, die mich verbal aus dem Aufzug prügelt, während sich die Stahltüren auseinander schieben. Ich schließe für einen kurzen Moment meine Augen und atme durch die Betonmauer auf meiner Brust hindurch. Dann bündle ich meine Kraft und setzte langsam einen Schritt vor den anderen. Auf dem Weg ins Schwesternzimmer lasse ich mit jedem zurückgelegtem Meter auch ein klein wenig von meiner Angst zurück und versuche immer mehr im Hier und Jetzt anzukommen. Mit OP-Plänen und Klemmbrett unter dem Arm verschwinde ich im Patientenzimmer und werde schon erwartungsvoll empfangen. Meine Patienten freuen sich auf mich. Darauf richte ich meinen Fokus, weshalb es mir recht schnell gelingt, mich wieder in meine Arbeit zu vertiefen.
Ein Stück Normalität und gleichzeitig Sicherheit für mich dieser Arbeitsalltag. Es ist ein Kampf, weil diese Klinikatmosphäre mich aufwühlt und ich am liebsten wegrennen will. Mein Herz schlägt ganz unkontrolliert, weshalb Betablocker im Moment in meiner Handtasche nicht fehlen dürfen. Habe doch die letzten Jahre genug in Arztpraxen und Krankenhäusern verbracht und begebe mich nun freiwillig jeden Tag dorthin. Gleichzeitig sehe ich darin eine Chance, weil ich mich meiner Angst jeden Tag aufs Neue stellen kann und die Erfahrung mache, dass ich jetzt in Sicherheit bin. Alle Schreckensbilder und Gefühle habe ich in einem Tresor verschlossen. Wahrscheinlich ganz unbewusst, denn ich kann mich nicht an den Code erinnern, mit dem ich diese gesichert habe. Auf jeden Fall muss ihn jemand geknackt haben, denn alles was ich fühle ist so real und bedrohlich wie damals. Doch die Frage ist nicht wie ich diesen Tresor wieder verschließe, sondern wie ich damit umgehe, dass alle in ihm verschlossenen Erinnerungen langsam ans Tageslicht treten. Manchmal möchte ich fliehen und mich verkriechen, aber ich gebe dem nicht nach. Ich habe beschlossen zu kämpfen und deshalb mache ich einfach weiter. Jeden Tag. Auch, wenn das mit Beton auf der Brust nicht so einfach ist. Doch ich sehe die kleinen Erfolge. Ich war nicht einmal krank seitdem ich meine neue Arbeit angetreten habe und immerhin habe ich schon über einen Monat durchgehalten.
Das Leben mit Krebs ist schwer, aber das Leben danach ist nicht wirklich leichter. Weil alle erwarten, dass man wieder normal wird und vor allen Dingen, weil ich das auch von mir selbst irgendwie erwarte. Es ist nicht immer leicht den Mittelweg zu nehmen. Ich meine nach vorn zu schauen und sich trotzdem die Zeit zu geben, um das Erlebte zu verarbeiten. Das Vergangene ist ein Teil von mir, aber es sollte nicht mein Leben bestimmen. Deshalb bleib ich morgens nicht im Bett liegen, sondern stehe auf, gehe auf Arbeit und nehme ab jetzt eben die Treppe anstelle des Aufzugs.
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