Freitag, 29. Juli 2016

Platz lassen für Wunder

WARUM ICH? Ich würde mit Sicherheit im Selbstmitleidssumpf versinken, würde ich nach dem Grund suchen, weshalb es ausgerechnet mich getroffen hat und nicht den Kettenraucher von nebenan. Sollte man dieser Frage grundsätzlich aus dem Weg gehen, weil sie ohnehin zu nichts führt? Rational gesehen wahrscheinlich schon. Doch ausgerechnet heute konfrontiere ich mich mit diesen fünf niederschmetternden Buchstaben: WARUM...

Ich parke mein grünes Auto auf dem kostenpflichtigen Parkplatz vor dem Medizinischen Versorgungszentrum in Delitzsch (MVZ) und löse wie immer keinen Parkschein (Das ist meine Rebellion gegen die viel zu hohen Gebühren). Die Tür am Eingang öffnet sich immer etwas verzögert, dafür automatisch beim Berühren des Türknaufs. Ich trete ein und verschaffe mir einen kurzen Überblick in der Eingangshalle. Vielleicht ist ein bekanntes Gesicht dabei? Links von mir befindet sich der Fahrstuhl, davor steht eine kleine Menschenschlange. Ich winde mich vorbei und gehe die Treppe hinauf. Der Bodenbelag ist immer etwas glatt, deshalb passe ich heute besonders auf, denn ich trage Sandalen ohne Profil, einen soliden Frauenschuh von der Marke "Tamaris" oder so...
Meist kommt mir jemand im humpelnden Gang oder mit einer Schiene irgendwo befestigt,entgegen, Patienten aus der Chirurgie, erste Etage. Ab und zu tappst auch ein Kind die Stufen hinab...immer ein Bein versetzt, Stufe für Stufe mit der Mama im Hintergrund, aus der Kinderarztpraxis kommend.

 Ich nehme jedes Detail im Treppenaufgang wahr, jedes Geräusch und jede Veränderung. Auch nach zwei Jahren Krebsfreiheit habe ich noch immer ein mulmiges Gefühl in der Magengegend, wenn ich die Treppe zur Onkologie hinauf gehe.  Bei meinem ersten Arztbesuch im MVZ, gerade den ersten Chemozyklus hinter mir, war ich noch auf den Fahrstuhl angewiesen. Und selbst Fahrstuhl fahren war damals schon ein Akt für mich. Jetzt funktioniert es wieder. Jeder Schritt ist federleicht. Keine Atemnot, kein Schwindel, keiner vom Gegenverkehr, der mich mitleidig anglotzt, weil meine Kopfbedeckung verrät zu welcher medizinischen Abteilung ich gehöre.

Zweite Etage, Onkologie. Ich lehne mich gegen die schwere Eingangstür. Eine Schwester kommt mir entgegen und schenkt mir ein freundliches Lächeln. Es sind sehr vertraute Gesichter in die ich schaue, wenn ich zum großen Tresen an die Anmeldung gehe. Für mich ist der Gang längst nicht mehr schlimm- im Gegenteil, für mich ist es ein angenehmes Gefühl meine Lebensretter dort anzutreffen.

"Huhu",höre ich ein freundliches Stimmchen rufen. Ich drehe mich um und sehe meine Krankenschwester Ina, die ich sofort umarmen möchte, deren Arme jedoch gerade voll beladen sind. Sie dreht geschwind um in einen Nebenraum um die Sachen in ihrer Hand kurz mal abzustellen. Dann kommt sie zurück und nimmt sich Zeit für eine herzliche Umarmung. Gegenüber vom Anmeldebereich ist der Eingang zum Wartezimmer. Dort stehe ich zwischen Tür und Angel, während ich drei Worte mit meiner Ina wechsle. Ein freundliches "Hallo" folgt von allen Seiten. Ich muss dazu sagen, Wartebereiche in der Onkologie sind alle etwas anders im Vergleich zu den üblichen Zimmern, in denen man sonst lange Wartezeiten verbringt. Die Patienten sind in der Regel sehr offen. Hier und da kommt man miteinander ins Gespräch. Es wird nur selten gejammert. Die Meisten sind optimistisch gestimmt, erfreuen sich an den positiven Dingen des Alltags und bauen einander auf. Zudem sind sie, zumindest in den meisten Fällen, längst geübt im Aushalten langer Wartezeiten. Einige Gesichter sind mir noch vertraut, fällt mir auf, während ich meinen Blick kurz von Ina abwende.

Ich erkenne ein bekanntes Gesicht-eine Frau, die einmal neben mir in der Chemo-Suite saß. Es besteht jedes Mal gleich eine Verbindung zwischen uns, wenn wir uns sehen. Gemeinsam Cocktails trinken, schweißt eben doch zusammen, auch wenn es sich in diesem Fall um schwermetallhaltige Cocktails handelte. Auf die Frage wie es ihr geht, antwortet sie: "Nicht so gut. Sie haben wieder was gefunden. Eigentlich hatte ich nur Bauchschmerzen.". Für einen Moment schauen wir uns einfach bloß an und sagen uns damit mehr als Worte es jemals zum Ausdruck bringen könnten. Und genau in diesem Moment stelle ich mir die Frage- WARUM ICH? Allerdings frage ich mich nicht- Warum ich Krebs-du kein Krebs....sondern ich frage mich- Warum bin ich jetzt gesund? Warum hatte ich Glück und andere nicht? Wieso, weshalb, warum diese liebe Frau? Wieso bekommen manche immer wieder Krebs und andere nur einmal? Warum darf ich leben und andere streben an dem Scheiß? Und gleichzeitig erkenne ich, dass es einfach unglaublich schnell gehen kann. Eben mal hat einer Bauchschmerzen und da ist es- das Rezidiv.

Einmal Krebs haben lässt sich ja vielleicht gerade noch so verkraften, aber zwei mal oder gar mehrfach ist definitiv zu viel verlangt. Wenn das ein Teil von Gottes großem Plan sein soll, dann möchte ich hiermit offiziell Beschwerde einreichen beim großen Chef persönlich.
Es ist schlimm einen Tumor zu haben, aber mindestens genauso schlimm empfinde ich es mit anzusehen wie Mitstreiter erneut erkranken oder sich im Kampf gegen den Krebs geschlagen geben müssen.

So viele Gedanken überhäufen mich in den Räumen der Onkologie. An diesem Ort schaue ich zurück und gleichzeitig nach vorn. Ich fühle den Schmerz der Vergangenheit, aber auch die Freude auf die Zukunft und die Wunder zwischendurch. Bei all der Fragerei nach dem Sinn und der Gerechtigkeit, wird mein Herz auch jedes Mal mit großer Dankbarkeit durchflutet, weil ich mir immer wieder Zeit nehme um auf die vielen kleinen Wunder zu schauen, die ganz nebenbei passieren... Angefangen bei den Krankenschwestern, die mich anlächeln, sich sogar Zeit nehmen für eine Umarmung, die Patienten im Warteraum, die trotz ihrer quälenden Therapien anderen versuchen Mut zu machen, die enge Verbindung zwischen zwei Leidensgenossen am Infusionsständer und das erleichternde Gesicht eines Patienten, wenn er aus der Sprechstunde kommt und seine Befunde unauffällig waren. All das passiert dazwischen. Es findet kaum Beachtung, aber es sind die Dinge, die die ganze Situation erträglich werden lassen. Vielleicht kann Mister Gott nicht immer alles von uns fernhalten, aber er gibt uns immerhin die Chance die kleinen Wunder zu erleben. Ob mit oder ohne Krebs- dafür sollten wir immer noch ein bisschen Platz lassen in unserem Leben.






Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen