Sonntag, 25. September 2016

Visionen vom Dasein als flauschiges Schäflein

Mein Leben ist wirklich toll. Seit einem Monat wohne ich wieder in meiner neuen alten Heimat. Noch dazu bin ich frisch gebackene Besitzerin meiner ersten eigenen Wohnung, einer Zweiraum-Dachgeschosswohnung mit Einbauküche und Balkon. Fast schon ein bisschen spießig das alles. Aber im Alter steigen nun mal die Ansprüche. Ich hause in idyllischer Lage am hiesigen Stadtpark. Meine Wohnung ist überaus ruhig gelegen. Man könnte fast sagen, an diesem Fleckchen Erde kann Schaf alt und grau werden.

Wenn ihr denkt, ich hab nicht mehr zu bieten, dann wartet mal ab bis ich euch sage, dass ich seit September auch noch eine neue Stelle als Ergotherapeutin angetreten habe. Ich arbeite für 30 Stunden in einem Krankenhaus und versorge dort frisch operierte Patienten mit rheumatischen und orthopädischen Erkrankungen. Zusammenfassend könnte man sagen, ich habe mit 'ner Menge Rücken, fetten Schwellungen, triefenden Narben und 'n Haufen Verbandsmaterial zu tun. Wenn ich nicht im Krankenhaus mein Unwesen treibe, betreue ich im anliegenden Rehabilitationsbereich, Patienten mit neurologischen Erkrankungen. Ich helfe ihnen mit kleinen Tricks im Alltag wieder eigenständig zurecht zu kommen. Das ist hauptsächlich anstrengend und man muss eine Menge Geduld aufbringen, aber ich mache es wirklich gern. Ich glaube ich bin auch ziemlich gut darin.

Man könnte fast sagen, ich habe bilderbuchmäßig mein Happyend bekommen. Jetzt nach beinahe drei Jahren gänzlicher Hodgkinfreiheit. Doch da man erst von "Happyend"sprechen kann, wenn tatsächlich etwas beendet ist, ist die Wortwahl "Happyend" dann doch nicht so trefflich. Das Ende ist der Tod. Zumindest in diesem Leben. Und wo man lebt, da gibt es Veränderung und jede neue Veränderung bringt neue Herausforderungen mit sich. Die eine mehr als die andere. Bei mir scheinbar immer grundsätzlich mehr.

Für mich ist es ein großer Schritt wieder am Arbeitsleben teilzuhaben. Lange Zeit glaubte ich nicht widerstandsfähig genug zu sein um in der rauen Arbeitswelt mitmischen zu können. Mein Selbstvertrauen war nur noch erbsengroß. Es ist durch die Therapien geschrumpft wie die Tumore in meinem Körper. Ich glaubte nicht mehr an mich. Wie sollte es da möglich sein noch an Karriere zu denken? Doch eine Reha, jede Menge Psychotherapie, Gespräche bei Kaffee und Bier mit Freunden, gaben mir meinen Glauben an mich selbst zurück. Besonders Erstes und Letzteres halfen mir wieder auf die Beine. Ich bin viele Umwege gegangen und habe viel ausprobiert, zuletzt das Abenteuer Auswanderung in den Westen. Ich hatte mehrere Findungskrisen, doch gefunden habe ich mich noch längst nicht. Ich mache da bloß keine Krise mehr draus und ich habe auch echt keen Bock mehr nach mir zu suchen. Im Versteckspielen war ich eigentlich auch noch nie wirklich der Bringer. Was nicht heißen soll, dass ich keine guten Verstecke fand, sondern vielmehr, dass ich  mich stets mehr bemühen musste als meine Räuberkumpels, die Versteckten zu finden. Ich bin also von Natur aus kein Talent im Finden.

Auf jeden Fall habe ich eine turbulente Zeit hinter mir und ich wünsche mir nichts sehnlicher als allmählich langsam einmal zur Ruhe zu kommen. Umzugskartons und Vorstellungsgespräche, Arztbesuche und Therapiesitzungen, all das macht ziemlich müde. Neue Herausforderungen sind im Moment für mich gestrichen. Ich will ankommen, wenigstens für eine kurze Zeit. Wenigstens eine Verschnaufpause einlegen und nicht immer stark sein müssen. Ich dachte, dies wäre jetzt die perfekte Gelegenheit dafür, nachdem ich mich in Arbeit und Wohnung eingelebt habe. Doch es kommt immer anders und eigentlich hätte ich es wissen sollen. Aber wie immer, war ich auch diesmal drauf nicht vorbereitet.

Es begann vor etwa zwei Wochen. Mein Wecker klingelte 5 Uhr. Ich lag im Bett und wollte aufstehen. Doch es funktionierte nicht. Da ging etwas seltsames in mir vor. In meinem Kopf liefen Bilder in einer Schnelligkeit auf und ab, sodass meine Gefühle keine Chance hatten dieser Geschwindigkeit nachzukommen. Ich lag versteinert auf meiner Matratze, krallte mich mit einer Hand am Laken fest und weinte. Ich fühlte mich nicht sicher, wollte mich am liebsten in meinem Federbett verstecken. Wie früher als Kind vor den Monstern unter meinem Bett. Ich dachte an Infusionsständer, Venenzugänge und das Brennen im Arm. Ich fühlte Ohnmacht und Todesangst. Plötzlich hörte ich wieder das Piepen der Maschinen. Der penetrante Geruch des Desinfektionsmittels lag in meiner Nase. Alles wirkte so real. Als wäre ich in die Vergangenheit gereist. Ich leide schon seit über zwei Jahren an schlimmen Albträumen und ich nehme jede Nacht ein Medikament, ohne das ich längst nicht mehr einschlafen kann, aber das hier ist neu. Und ich habe Angst. Dieses Szenario wiederholt sich beinahe täglich und es dringt auch tagsüber in kleinen Dosen zu mir durch. Da reicht eine Erinnerung an die Krankenhaushölle. Das Geräusch beim Pumpen am Desinfektionshalter, die rosa Flexüle am Arm meines Patienten, das Geklapper der Wagen auf den Stationen oder eine Kochsalzlösung am Infusionsständer. Ich kann die Bilder verdrängen, aber je doller ich dagegen ankämpfe, desto präsenter werden sie. Es baut sich eine gewaltige Anspannung in mir auf. Ich denke daran mit dem Rauchen anzufangen. Ich habe zeitweise das Bedürfnis von einem Lastwagen überrollt zu werden, denn das scheint mir angemessen, um das was in mir vorgeht, verhältnismäßig einzudämmen. Doch da Gewalt wie immer keine Lösung ist, sollte ich darüber nachdenken wie ich mit der ganzen Einhornkotze in meinem Gehirn am besten umgehe. Denn nicht mal Yoga hilft da gerade noch.

Manchmal frage ich  mich ob es tatsächlich nur sieben Brücken sind über die wir in unserem Leben gehen müssen. Das ist bestimmt nur ein Durchschnittswert, den ich mit Sicherheit schon längst überschritten habe. In meinem Badezimmer hängt eine Postkarte auf der steht: "Ich brauche keinen Sex. Das Leben fickt mich jeden Tag.". Das beschreibt wohl meinen derzeitigen Gemütszustand recht gut. In einer Sache bin ich mir jedoch sehr sicher. Wir bekommen nie mehr aufgebürdet als wir letztendlich schaffen können und wenn es erforderlich ist, dann bums ich das Leben eben mal kräftig zurück. Denn aufgeben is nicht. Mäh! Das ist mein Leben und ich lass mich nicht vergewaltigen. Vielleicht wird dieses Starksein auch irgendwann zur Gewohnheit. Herkules hat's schließlich auch gewuppt. Vielleicht wird es nicht leichter, aber ich werde stärker. So eine richtige Kampfsau mit 1 Meter 57.

Diese Woche habe ich meine Krebsnachsorge. Mittels Ultraschall und Röntgen wird geschaut ob die die Krebszellen noch brav Winterschlaf halten. Das sollten sie in jedem Fall. So viele Schlaftabletten wie ich konsumiere, dürften die für den Rest meines Lebens friedlich schlummern. Trotzdem darf jeder der will ganz unverfänglich gerne die Daumen drücken. Die Kampfsau will nämlich manchmal einfach nur ein flauschiges Schäflein sein.


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